„Wir sollten also lernen, uns selbst schon als Gewesene zu betrachten und das Gegenwärtige als ein Vergangenes.“[1]

Warum „Zeit“? In heutigen Diskursen zur Architektur kommt der Begriff „Zeit“ vergleichsweise selten vor und vielleicht liest er sich auch hier ein wenig ungewohnt? „Zeit“ ist der Oberbegriff all jener temporalen Beschreibungen von Architektur, die wir im alltäglichen Sprachgebrauch mitführen, wenn wir beispielshalber von „Architekturgeschichte“ sprechen und uns die „Zeitgeschichte“[2] der Architektur in- oder auch exkludiert vorstellen. Aber um Begriffsgeschichten soll es nicht gehen und die „Geschichte der Architektur“ bleibt hier zunächst im Hintergrund präsent. Ungenauer noch geht es beim Nacheinander in der Zeit mit den adjektivischen Zuschreibungen von „alt“ und „neu“ zu, die im Gespräch über Architektur allein noch konzeptualisierte Bedeutungen anzunehmen scheinen. Dass wir in der Architektur scheinbar immer weniger „Neues“ sehen und das dieses wenige „Neue“ unverzüglich dem „Alten“ zuzufallen scheint, gehört zu unseren „Zeit-Erfahrungen“ unter der „evolutionären Dynamik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation“,[3] mit anderen Worten: Das „Neue“ tritt zwar mannigfaltig, aber in immer weiter zeitlich abnehmenden Intervallen auf, sodass wir es als das „Neue“ weder wahrnehmen und erkennen noch vom „Alten“ zu unterscheiden vermögen.[4] Die „bedächtige“ Architektur kann da schon länger nicht mehr mithalten und für Avantgarden fehlt schlicht die Zeit. Von Wandel und Umbruch ist zudem die Rede. Man spricht vom „Fall des Zeitregimes der Moderne“, die Aufmerksamkeit für Modernisierungsprozesse, Fortschritt und Zukunft nähme ab und die neuen Kategorien – „Kultur, Identität und Gedächtnis“ – träten auf.[5] Jedenfalls schien das noch für die „Vor-Krisen-Zeit“ zu gelten. Längst hat sich neben der Aufmerksamkeit für das Vergangene das „diensthabende Organ der wahrnehmbaren Zeit“ – die „Sorge“ [6] – die Sorge um das Kommende mit Vehemenz zurückgemeldet. So wie das Wohnen unserer räumlichen, so gehört die Sorge zu unserer zeitlichen Verfasstheit.[7] Als „zeitliches Organ“ hält die Sorge auch einen Übergang zum derzeit domminierenden Diskurs über Nachhaltigkeit offen. Und auch die nachfolgenden Überlegungen zu „Sinn“ und „Inhaltlichkeit“ der Architektur weisen in dieser Hinsicht auf weitere Möglichkeiten. 

Offene Architektur! Neben den Begriffen „Ort“ und „Zweck“ gehört auch der der „Zeit“ zu „äußeren“ Grundlagen der Architektur, dagegen stellen sich die Begriffe „Material“, „Konstruktion“, „Form“, „Funktion“ und „Raum“ als „innere“ Grundlagen der Architektur zugleich auch als Eigenschaftlichkeiten eines Gebäudes heraus. Acht Begriffe, mit denen sich der Anspruch verbindet, dass sich mit ihrer Hilfe wesentliche Beschreibungen von Architektur sowie methodologische Hinweise auf das Entwerfen[8] sammeln und aufschließen lassen. Dass wir hier exogene Einflüsse als feste Grundlagen der Architektur heranziehen, wirft möglicher Weise Fragen auf? Entgegen ihren Anlagen sollte Architektur von Beginn ihrer theoretischen Aufzeichnung an immer schon eine „Andere“ sein, sollte „Kunst“ sein, aber erst im Verlauf der architektonischen Moderne konnte das Autonomiebestreben radikal vorangetrieben und weitgehend durchgesetzt werden. In der Moderne wählte die Architektur den Übergang zur Selbstbestimmtheit. Bindungen an Geschichte, an Orte, schlussendlich auch an Gesellschaften, sollten als „Fremdbestimmungen“ sukzessive verworfen und getrennt werden. Die Fragen nach „Sinn“ aber blieben offen.[9] Und noch in den 1990er Jahren, beispielshalber in amerikanischen Diskursen, konnte man eine „weiße“, kontextlose und selbstreferentielle Architektur proklamieren, oder auch von den Nachfolgenden mit der erklärten Wirkungslosigkeit jeder Bedeutung eine Architektur dagegen einfordern, die absolut nichts mehr ähneln sollte.[10] Auch diese jüngeren Kapitel der „Zeitgeschichte der Architektur“ scheinen zeitlich wie inhaltlich gleichsam zu schrumpfen und sich in schneller Folge ab- und aufzulösen. Jedenfalls können wir uns gegenwärtig – in dieser Zeit – ein architektonisches und städtebauliches Gestalten, das neben der Sinnlichkeit nicht auch den Sinn zum Ziel erklärt, vielleicht schon nicht mehr vorstellen, ganz sicher, aber nicht mehr leisten, es fehlt an vielem, besonders an Zeit. Die Frage nach dem Sinn, nach „neuer Inhaltlichkeit“ steht also im Raum:[11] Architektur wendet sich dem Äußeren zu, öffnet sich gegenüber Einflüssen und nimmt die örtlichen, zweckmäßigen und zeitlichen Kontexte auf! Das, also, ist die Bedeutung der „äußeren“ Grundlagen der Architektur: Sinnstiftung. Die Spiegelung des Übergeordneten und Unendlichen im Begrenzten und Endlichen der Architektur stiftet Sinn, Inhaltlichkeit und ja, auch Schönheit.[12] Sicherlich. Es ist auch sinnvoll, wenn etwa das „Material“ die „Konstruktion“ empfiehlt, die „Konstruktion“ in der „Form“ Ausdruck findet, die „Form“ die „Form“ des „Raums“ ist und die „Funktion“ die Architektur für einen „schönen Gebrauch“ offenhält. Wenn also aus dem Inneren heraus das Wesen zu seiner freien Erscheinung gelangt, dann spiegelt sich darin – in der Schönheit – nicht allein nur Inneres,[13] da sich die übergeordneten Bedeutungen und Inhalte beim Entwerfen und im Entwurf den inneren Grundlagen einschreiben. Also, nur unter der Prämisse von Sinnlichkeit und Sinn gelangt die Architektur zu wirklich „inhaltlichem“ Ausdruck ihrer Zeit.

Konzentrationspunkt Gegenwart! Die kulturelle Aufmerksamkeit hat sich der Vergangenheit, verschiedenen Erinnerungskulturen und -orten und der Frage nach dem Umgang mit Geschichte zugewendet: „Eines der überraschendsten kulturellen und politischen Phänomene der letzten Jahre ist das Interesse an Erinnerung als Schlüsselphänomen westlicher Gesellschaften und damit verbunden die Hinwendung zur Vergangenheit und Abwendung von der Zukunft, auf die die Moderne in früheren Dekaden des 20. Jahrhunderts ausgerichtet war.“[14]Erinnerungen vergegenwärtigen etwas, beispielshalber Gewesenes, Novalis hat es prägnant auf den Punkt gebracht: „Alle Erinnerung ist Gegenwart.“[15] Das so Vergegenwärtigte kommt zu aktualisierter Präsenz und Wirksamkeit, nicht als einfache Reproduktion einer Vorstellung, sondern als eine verstehende und reflektierende Aufnahme, als Rezeption. Architektur und ihre Orte sind auf verschiedene Weise mit Erinnerungskulturen verbunden. Architekturen der Erinnerung[16] stiften Orte mit Gedächtnis, zu den ältesten zählen funeräre Bauten und sakrale Räume. Denk- und Mahnmale erinnern an historische Ereignisse. Artefakte und ihre Geschichten werden in Speichern verwahrt, Archive, Museen und Schaulager halten die Erinnerung wach. Architektur stiftet Orte kollektiver Erinnerung und zahllose Orte individueller Gedächtnisse – das Elternhaus – in denen Raum und Atmosphäre mit der zeitlichen Lebenskonzeption des Erinnernden zusammenfallen. Architekturen tragen Erinnerungen, Architektur ermöglicht Erinnerung und Erinnerungen sind beim Entwerfen und im Entwurf von Architektur gleichfalls präsent. Als Komplementärbegriff zu „Rezeption“ hat der Philosoph Hermann Lübbe den Begriff „Präzeption“ etabliert, der die Vorwegnahme zukünftiger „Vergangenheitsvergegenwärtigung“ beschreibt.[17] Das Problem im Hintergrund ist schnell erklärt, eine einfache Hochrechnung: Gegenwärtig bringen unsere Gesellschaften eine rasant steigende Anzahl von möglichen „Relikten der Zukunft“ hervor, Dokumente, Artefakte, auch Architekturen etc., welche die Kapazitäten von Archiven und Museen, des Denkmalschutzes und der -pflege zunehmend überlasten werden. Präzeption – als vorausahnende Erinnerung – ist das Mittel der Wahl und die vorweggenommene Antwort auf die Frage, woran man sich erinnern wird. Und Architektur? Rezeption, also, Erinnern, das Aktualisieren des Vergangenen in der Gegenwart und Präzeption, also, vorweggenommenes Erinnern, das Vorstellen der Gegenwart als Vergangenheit der Zukunft, vermehren die Aufmerksamkeit für unsere Zeit – bedeuten eine radikale Konzentration auf die Gegenwart. Nur so kann die Architektur ihrer Zeit entsprechen. Also, keine Architektur der Vergangenheit, aber auch keine der Zukunft, es kann nur eine Architektur der Gegenwart sein: Entwerfen heißt Erinnern![18]

Seit 2017 geht die Aachener Tagung „Identität der Architektur“ einer zunächst auf acht Veranstaltungen angelegten Reihe zu Grundlagen der Architektur­­­ nach. Unter den aufgerufenen Begriffen kommen fünf vor, die als „endogene“ Grundlagen – „Material“, „Funktion“, „Konstruktion“, „Raum“ und „Form“ – zugleich wesentliche Eigenschaften eines jeden Gebäudes aufrufen. Drei weitere Begriffe benennen als „exogene“ Grundlagen – „Ort“, „Zeit“ und „Zweck“ – zwar nicht Eigenschaften eines Gebäudes, obgleich sie auf wesentliche Voraussetzungen rekurrieren, unter denen Architektur (ent-)steht. Bei den verangegangenen  sechs Tagungen sind wir in chronologischer Reihenfolge den Inhalten von „Ort“, von „Material“, von „Funktion“, von „Konstruktion“, von „Raum“ und von „Form“ nachgegangen, mit der siebten Tagung und mit dem Begriff der „Zeit“, kommen wir zu den von „außen“ wirksam werdenden Grundlagen der Architektur zurück: „Zeit“ kann als Oberbegriff verschiedener temporaler Bestimmungen und Inhalte von Architektur gelten, auf die wir uns im allgemeinen Sprachgebrauch beziehen, hin und wieder auch recht uneindeutig: Ist die „Zeitgeschichte der Architektur“ als Teil der „Geschichte der Architektur“ zu verstehen? Haben die in Philosophie und Kulturwissenschaften beschriebenen „Zeit-Erfahrungen“ Einfluss auf die Disziplin der Architektur? Ist uns die „Sorge“ in Zeiten der Krisen als wesentlicher Teil unserer zeitlichen Verfasstheit aufdringlich bewusst geworden? Und wie eigentlich kommt „Zeit“ in das Entwerfen und den Entwurf einer Architektur? Diesen Fragen will die 7. Aachener Tagung in gewohnter Weise in Thesendiskussionen anhand realisierter Projekte nachgehen. 

1. Zeit und Architektur (Statement)

            Welche Bedeutung hat „Zeit“ für die architektonische Gestalt eines Baus? Welchen Stellenwert nimmt „Zeit“ beim Zustandekommen der Architektur ein? Inwieweit gehören theoretische und praktische Vorstellungen von Zeit zu Grundlagen der Architektur?

2. Zeit und Entwurf

            Ist eine bestimmte und bestimmende Vorstellung von Zeit immer schon beim Entwerfen präsent und daher auch ein wesentlicher Bestandteil eines jeden Entwurfs? Bestimmt die Zeit Form, Konstruktion, Material, Funktion und Raum eines Baus, oder passt sich die Zeit in einer Wechselwirkung an diese an?

3. Zeit und Bau

            In welcher Weise werden die zeitgebundenen entwurflichen Vorstellungen baulich umgesetzt? Welche Rolle spielt die Zeit für die architektonische innere und äußere Erscheinung des Gebäudes und wie und wann werden diese Überlegungen auf verschiedenen Ebenen des Entwurfs- und Planungsprozesses untersucht und präzisiert?

[1] Bazon Brock, Geschichte als Differenz in der Gegenwart, in: Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Schriften 1978-1986, hrgs. v. Nicola von Velsen, DuMont, Köln 1986, S. 191-197, hier: 193.

[2] Vergl. Gabriele Metzler, Zeitgeschichte: Begriff – Disziplin – Problem, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 07.04.2014 http://docupedia.de/zg/metzler_zeitgeschichte_v1_de_2014 DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.567.v1.

[3] S. Hermann Lübbe, Zeit-Erfahrungen. Sieben Begriffe zur Beschreibung moderner Zivilisationsdynamik, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, Steiner, Stuttgart 1996.

[4] Vergl. die Ausführungen z. d. Begriffen „Gegenwartsschrumpfung“ u. „Zukunftsexpansion“, in: Ebd. S. 12-19.

[5] S. Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, Hanser, München 2013.

[6] Vergl. Martin Heidegger, Die Sorge als Sein des Daseins, in: Sein und Zeit (1927), Gesamtausgabe, hrsg. v. F.-W. v. Herrmann, Bd. 2, 6. Kapitel, §§ 39-44, Vittorio Klostermann, 2. Aufl., Frankfurt a. Main 2018, S. 240ff.

[7] Vergl. Rüdiger Safranski, Zeit der Sorge, in: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, Fischer, Frankfurt a. Main 2017, Kapitel 3, S. 63ff.

[8] Exogene u. endogene Grundlagen lassen sich methodologisch den Oberbegriffen „Topos u. Typus“ zuordnen; vergl. Verf., Die Zwei Elemente der Raumgestaltung, Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen/Berlin 2009.

[9] Vergl. Verf., Déjà-vu. Orte der Architektur, in: der architekt 3/2017, ort. grundlagen der architektur I, S. 18-21.

[10] Vergl. Frederike Lausch, zeichen und affekt. zur bedeutung von spektakelarchitektur, in: der architekt 2/2018, zeichen und wunder. beiträge zur architektur als bedeutungsträgerin, S. 64-66.

[11] Vergl. Andreas Denk u. Verf., Das Romantische in der Architektur. Fragmente aus Gesprächen, in: der architekt 6/2021, geheimnis im gewöhlichen. zum romantischen in der architektur, S. 15-18.

[12] Vergl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus (1800), hrsg. v. Brandt, Horst D./Müller, Peter, Hamburg 2000, S. 291.

[13] Vergl. Friedrich Schiller, Kallias oder über die Schönheit, Fragment aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Körner (1793), Stuttgart 2006, S. 18.

[14] Ebd. Assmann, München 2013, S. 14.

[15] Novalis, V. Aphorismen und Fragmente 1798–1800, Magischer Idealismus: n»Alles kann am Ende zur Philosophie werden, …«, [25], https://onemorelibrary.com/index.php/de/?option=com_djclassifieds&format=raw&view=download&task=download&fid=6307.

[16] Vergl. Architectures of Memory, digitales Symposium, mit Beiträgen von Renato Rizzi, Paolo Zermani u.a., Università di Parma, 7. May 2021, Video: https://www.youtube.com/@architecturesofmemory5382

[17] S. ebd. Lübbe, Stuttgart 1996, S. 8ff.

[18] S. Uwe Schröder, Aus der Zeit gefallen. Eine temporale Skizze der Architektur, in: Die Architekt 6/2023, S. 15-19.