„Architektonische Phantasie wäre demnach das Vermögen, durch die Zwecke den Raum zu artikulieren, sie Raum werden zu lassen; Formen nach Zwecken zu errichten. Umgekehrt kann der Raum und das Gefühl von ihm nur dann mehr sein als das arm Zweckmäßige, wo Phantasie sich in die Zweckmäßigkeit versenkt.“[1] 

Seit 2017 geht die Aachener Tagung „Identität der Architektur“ einer zunächst auf acht Veranstaltungen angelegten Reihe zu Grundlagen der Architektur nach. In den bereits vergangenen sieben Tagungen sind wir in chronologischer Reihenfolge den Inhalten von Ort, von Material, von Funktion, von Konstruktion, von Raum, von Form und von Zeit nachgegangen, mit der achten Tagung und mit dem Begriff Zweck folgen wir den von „außen“ wirksam werdenden Grundlagen der Architektur weiter nach und schließen die Reihe damit ab. 

Acht Grundlagen also, mit denen sich der Anspruch verbindet – gleich einer Inventur der Architektur – wesentliche Beschreibungen der Disziplin und methodologische Hinweise auf das Entwerfen sammeln und aufschließen zu können. Erst eine grundlegende Beschreibung der Architektur kann retrospektiv zu kritischen Fragen führen, einerseits nach den topologischen Grundlagen, beispielsweise nach der Transkription von „Ort, Zeit und Zweck“ in der Architektur, und andererseits nach den typologischen Grundlagen, zum Beispiel nach der Nachhaltigkeit von „Material, Konstruktion, Form, Funktion und Raum“ in der Architektur. Im Umkehrschluss führen solche Einsichten zu prospektiven, methodologischen Hinweisen auf das Entwerfen. In der entwurflichen Herangehensweise lassen sich immerfort zwei Sinnzusammenhänge ausmachen – das Vorgefundene und das Vorgestellte –, aus denen und aus deren Verknüpfungen heraus das Entwerfen und der Entwurf erst richtig verstanden und gedeutet werden können: Topos und Typus.[2]

I. Topologie oder Lehre von der Räumlichkeit der Orte

In Anwendung auf die hier angesprochenen Grundlagen der Architektur und auf eine in Aussicht gestellte Methodologie des Entwerfens wird der Begriff „Topologie“ in Abhebung von den Naturwissenschaften erweiternd als Lehre von der Räumlichkeit der Orte verstanden. Gemeint ist die vorgefundene Gesamtheit einer erfahrbaren und wahrnehmbaren Situation. Raumzeitliche Bedingungen spielen ebenso wie kulturell- gesellschaftliche Verfasstheiten mit in diese Wirklichkeit hinein. Im Anschluss an die Begrifflichkeiten vom „gelebten Raum“[3] und von „gelebter Zeit“[4] wäre hier vom gelebten Ort zu sprechen, der die Gesamtheit der subjektiv erfahrbaren und wahrnehmbaren Wirklichkeit umfasst. Die „äußeren“ Grundlagen – Ort, Zeit und Zweck – sind dem Begriff „Topologie“ gliedernd zuordenbar. Der Standpunkt im Vorgefundenen lässt für das Entwerfen sinnhafte Fragen aufkommen: Wie schreibt sich Architektur dem Ort und der Ort der Architektur ein; inwiefern entspricht Architektur ihrer Zeit, der Gegenwart; in welcher Weise kann Architektur verschiedene Kulturen des Wohnens ermöglichen? Und, wie überhaupt kommen Ort,[5]Zeit[6] und Zweck in das Entwerfen und den Entwurf? Architektur hat sich diesen äußeren Einflüssen gegenüber nicht zu verschließen, sondern sich offen zu halten, also, eine offene Architektur. Nicht immer ist das der Fall gewesen. Noch im ausgehenden 20. Jahrhundert hatte es vielfach Autonomiebehauptungen und -zuschreibungen an die Architektur gegeben, die sich zu Beginn der 1970er-Jahre gegen eine formale Armut und Unwirtlichkeit funktionalistischer Planungen richtete: „Thema und Inhalt der Architektur kann nur die Architektur selbst sein.“[7] So wendet sich Oswald Mathias Ungers in der Einleitung seines Hauptwerks Die Thematisierung der Architektur gegen den Funktionalismus seiner Zeit, den er als Krise der Architektur wahrnimmt. Doch der hier zitierte Satz ist auch in Ungers eigener Argumentation nicht schlüssig, eine radikale Zuspitzung, die aber gedanklich in die Enge führt, denn woher sollten die Themen kommen, die seiner Ideenlehre zugrunde liegen, wenn nicht von einem Außen, aus der Welt der Ideen. Und auch der Ort, dem Ungers „Das Thema der Assimilation. Oder die Einpassung in den Genius loci“[8] widmet, und an dem er die Architektur grundsätzlich beginnen lässt, findet sich anfänglich sicher nicht in der Architektur selbst, sondern ist dieser immer erst einzuschreiben. Schlussendlich kann auch Ungers Forderung nach einer „Architektur in gesellschaftlicher Verantwortung“[9] eben nicht ohne Gesellschaft gedacht und vorgestellt werden.[10] Unter dem Gedanken der Autonomie scheint in der Geschichte der Architekturtheorie immerfort die überkommene Vorstellung von einer Architektur als Kunst durch, eine Vorstellung, von der wir uns abzuheben suchen, vorläufig und hier mit der „Topologie“ der Architektur: Sinn und Bedeutung kann Architektur nicht intrinsisch, nicht aus sich selbst heraus hervorbringen, sondern allein von den Transkriptionen des Äußeren her erlangen, von der Wirklichkeit der Orte.

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Exkurs: Transkriptionen

Jeder Entwurf ist ein idealistisches Projekt, erdacht für eine Welt, die wiederum ein idealistischer Entwurf ist: nur eine Vorstellung. Das architektonische Denken geht auf ein und demselben Weg in beiden Richtungen voran. Ideen werden auf die Architektur übertragen und mittels der Architektur werden Ideen erkannt. Beide Vorgänge setzen eine wechselseitige Transkription voraus, um von der einen auf die andere Seite zu gelangen. Ein Ereignis, zum Beispiel ein Fest, führt zu einem architektonischen Raum, beispielsweise einem Saal. In gleicher Weise gibt der Saal auch dann noch Auskunft über das Fest, wenn es längst vorüber ist. In der einen, wie in der anderen Richtung beschreibt der Vorgang der Transkription das Entwerfen selbst und stellt den Entwurf als idealistische Annahme vor: von Architektur und von Welt. Anstelle der Form tritt der volle Begriff des Raums, anstelle des Bildes der synästhetische Begriff der Atmosphäre. Um wie viel leichter fällt es uns jetzt, das Ereignis unmittelbar mit dem Raum, das Fest mit dem Saal wechselseitig zu verbinden – und auch die Ähnlichkeit zwischen beiden zu erkennen. Wir sind dabei nicht allein auf das distanzierte Auge angewiesen, sondern verlassen uns ganz auf unser Gefühl.[11]

II: Typologie oder Lehre von der Räumlichkeit der Gebäude

Mit Bezug auf die oben genannten „inneren“ Grundlagen der Architektur und auf das transkribierende Entwerfen wird der Begriff „Typologie“ als Lehre von der Räumlichkeit der Gebäude verstanden. Gemeint ist die vorgestellte Gesamtheit erfahrbarer architektonischer Situationen, die als atmosphärische Räume in- mitten charakteristischer innerer und äußerer Formen erscheinen. Das „Typische“ weist auf das Prägen der gewidmeten Räume und ihrer Formen hin, das von den wiederkehrenden Ereignissen des Wohnens ausgeht. Die „inneren“ Grundlagen – Material[12], Konstruktion[13], Form[14], Funktion[15] und Raum[16] – lassen sich dem Begriff „Typologie“ als Eigenschaftlichkeiten eines Gebäudes zuordnen. Der Standpunkt im Vorgestellten wirft beim Entwerfen sinnliche Fragen auf, vor allem nach den Formen der Räume, denn: Was Architektur wesenhaft ausmacht, findet sich in ihren Formen – die schlussendlich allein geplant und allein gebaut werden – nachweisbar angelegt, ein Verständnis für Material, die Logik der Konstruktion, die Möglichkeiten des Gebrauchs und das Wirken der Räume. So spielen die grundlegenden Eigenschaften eines Gebäudes ineinander, und jeder Fall und jede Fügung verlangen nach ästhetischer Reflexion und Entscheidung.

Exkurs: Sprache

In der Linguistik meint Transkription die Übertragung von sprachlichen Ausdrücken auf eine phonetisch definierte Lautschrift, der die leibliche Artikulation und Wahrnehmung von Lauten zugrunde liegt. Wegen der Ähnlichkeit können wir auf die Idee der Transkription aus der Linguistik zurückgreifen: Auch für die Eigenschaften der Architektur, hier Grundlagen genannt, kann die synästhetische Wahrnehmung als grundsätzlicher Maßstab herangezogen werden.Die Idee des Entwurfs transkribiert den gedanklichen Ausdruck auf den entsprechenden ästhetischen Eindruck, den Gedanken auf das Gefühl, auf und für die Räumlichkeit der Gebäude. Und also, ist so auch der Weg beschrieben, auf dem sich die Architektur mit Orten, Zeiten und Kulturen zu verbinden weiß…[17]

Poesie

Architektur kann man ansehen als eine alte Sprache. Bleiben wir also für einen Moment noch bei der Metapher Sprache der Architektur.[18] Im übertragenen Sinn lassen sich das Regelsystem zur sinnlichen Fügung der „inneren“ Grundlagen als Syntax und das zur sinnhaften Interpretation der „äußeren“ Grundlagen als Semantik beschreiben. Dabei hält sich unsere ästhetische Reflexion ganz an die praktische Seite, an das Entwerfen und das Bauen, an Sinnlichkeit und Sinn der Architektur. 

In Abhebung vom synonym verwendeten Begriff Funktion unterhält der Begriff Zweck eine unmittelbare Beziehung zu einem (veranlassenden) Subjekt. Mit anderen Worten: Wenn wir über Funktion reden, dann wird beispielsweise ein „Wohngebäude“ eigenschaftlich beschrieben, wenn wir dagegen vom Gebrauch dieses Gebäudes sprechen, meinen wir das Wohnen und wenn wir nach dem Zweck fragen, dann sind – um im Beispiel zu bleiben – die Wohnenden wesenhaft angesprochen. Das Wohnen ist demnach nicht die Funktion des Gebäudes und also auch nicht seine Eigenschaft. Wenngleich die Möglichkeiten zu wohnen, ein „Wohnen“ (zuallererst wohl) räumlich anzubieten, „Wohnen einzuräumen“, die Funktion des Gebäudes grundlegend und eigenschaftlich beschreibt, wobei damit aber nicht die Räume dieses Gebäudes selbst gemeint sein können, als vielmehr die der Räumlichkeit des Gebäudes hinterlegten Gebrauchsabsichten, -anweisungen oder auch -angebote. Das Wort „Wohnen“ nennt also den Gebrauch des Gebäudes und es weist in Art und Weise auf eine „Kultur des Wohnens“ hin, in deren zweckhaftem „Einräumen“ im Inneren und Äußeren des Gebäudes sich die Verfasstheit der Wohnenden repräsentativ bespiegelt. Adornos Versenken architektonischer Phantasie nähme hier wohl seinen Anfang.

Diesen Fragen will die 8. Aachener Tagung in gewohnter Weise in Thesendiskussionen und anhand realisierter Projekte nachgehen.

1. Zweck und Architektur (Statement)

Welche Bedeutung hat der Zweck für die architektonische Gestalt eines Baus? Welchen Stellenwert nimmt Zweck beim Zustandekommen der Architektur ein? Inwieweit gehören theoretische und praktische Vorstellungen von Zweck zu Grundlagen der Architektur?

2. Zweck und Entwurf 

Ist eine bestimmte und bestimmende Vorstellung von Zweck immer schon beim Entwerfen präsent und daher auch ein wesentlicher Bestandteil eines jeden Entwurfs? Bestimmt der Zweck Form, Konstruktion, Material, Funktion und Raum eines Baus, oder passt sich der Zweck in einer Wechselwirkung an diese an?

3. Zweck und Bau 

In welcher Weise werden die zweckgebundenen entwurflichen Vorstellungen baulich umgesetzt? Welche Rolle spielt der Zweck für die architektonische innere und äußere Erscheinung des Gebäudes und wie und wann werden diese Überlegungen auf verschiedenen Ebenen des Entwurfs- und Planungsprozesses untersucht und präzisiert?

[1] Theodor W. Adorno: Funktionalismus heute (1977), in: Ders.: Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden. Band 10.1., 7. Aufl., Frankfurt am Main 2018, S. 375–395.

[2] Vgl. Verf.: Die Zwei Elemente der Raumgestaltung, Tübingen / Berlin 2009.

[3] Graf Karlfried von Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum (1932), in: Andreas Denk / Uwe Schröder / Rainer Schützeichel (Hrsg.): Architektur. Raum. Theorie. Eine kommentierte Anthologie, Tübingen / Berlin 2016, S. 380 ff.

[4] Eugène Minkowski: Le temps vécu (1933), in: Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum (1963), 8. Aufl., Stuttgart / Berlin / Köln 1997, S. 13, 20, 23 ff.

[5] Vgl. Verf.: Déjà-vu. Orte der Architektur, in: der architekt 3/2017, S. 18–21.

[6] Vgl. Verf.: Aus der Zeit gefallen. Eine temporale Skizze der Architektur, in: Die Architekt 6/2023, S. 17–19.

[7] Oswald Mathias Ungers: Die Thematisierung der Architektur, Stuttgart 1983, Einleitung, S. 9–10.

[8] Ebd., S. 73 ff.

[9] Ebd., S. 9–10.

[10] Vgl. Verf.: Von Bildern und Büchern. Oswald Mathias Ungers. Die Thematisierung der Architektur, Eine Vorlesung im Rahmen von: Strategien des Entwerfens, Wintersemester 2020/21, Fakultät für Architektur der RWTH Aachen: https://youtu. be/-CmAWkZdP1c?si=PUnVpWrhxk9AUlVH.

[11] Siehe: Verf.: Drei Lehrer. Vom Wert der Theorie für den architektonischen Entwurf, Köln 2019, Prolog, S. 27.

[12] Vgl. Verf.: Janus. Material und Architektur, in: der architekt 6/2017, S. 21–23.

[13] Vgl. Verf.: Architektonik des Raums. Zur Konstruktion in der Architektur, in: der architekt 6/2019, S. 20–25.

[14] Vgl. Verf.: Offene Form und architektonische Entscheidung, in: Die Architekt 6/2022, S. 14–17.

[15]  Vgl. Verf.: Architektonische Phantasie. Fünf Überlegungen zur Funktion von Architektur und Stadt, in: der architekt 6/2018, S. 18–21.

[16] Vgl. Verf.: Raumverständnis für Architektur… und auch für Stadt, in: der architekt 6/2020, S. 19–22.

[17] Der alles überlagernde Diskurs zur Nachhaltigkeit überspringt die tieferliegenden, ort-, zeit- und zweckgebundenen Fragen nach dem Wohnen und den Wohnenden, und nach Architektur und Stadt. Kritisch sollte das Thema unter der zeitlichen Dichotomie von Trend und Tradition behandelt werden: Ein rechnerisch-nachhaltiges Gebäude führt mitnichten zu einer gelingenden Architektur…

[18] Auch Ungers spricht von Sprache der Architektur, ohne auf Inhalt und Bedeutung einzugehen: „(…), so besteht auch für die Architektur nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die künstlerische Notwendigkeit, Ideen mit der Sprache der Architektur als Raumkompositionen sichtbar und erlebbar werden zu lassen.“, in: Ungers 1983, S. 9.