Dass ein Körper Raum einnimmt, gilt für den architektonischen Körper in gleicher Weise, nur dass dieser in seinem Inneren – im Gebäude gleich in der Stadt – zudem auch Raum und Räume selbst hervorbringt. Architektonische Körper bestehen aus Formen und Räumen. Und diese Räume sind für die Architektur elementar und daher weder als Leere wahrzunehmen noch als Nichts vorzustellen. Formen und Räume sind im architektonischen Körper komplementär miteinander verbunden. Das Anordnen und Errichten von Räumen an Orten ist Aufgabe der Architektur, mittels Form – innerhalb der Form – lässt Architektur die gebrauchten Räume erscheinen. Architektonische Räume kommen als ortgebundene Innenräume vor, die von Form und Formen begrenzt werden. An diesen begrenzenden Formen beginnen die Räume ihr Wesen, phänomenal entlehnt sich also der Raum seiner ihm gewidmeten Form, oder mit anderen Worten: Die Form als Grenze ist die stoffliche Wesensbestimmerin des Raums. Darin liegt die grundsätzliche Bedeutung architektonischer Form.

Mitnichten aber beginnt Architektur mit der Form, als vielmehr mit der Idee von Raum und Räumen und deren vorausahnender Vorstellung. Und erst infolge und danach lassen sich architektonische Formen bestimmen, in deren Mitten die Räume erscheinen: „Im Zimmer gestalten wir doch nicht zuerst die Wände, den Boden oder die Decke, als vielmehr den Raum, den wir wohnend in Gebrauch nehmen. Wir bekleiden nicht Wände, sondern den Raum inmitten der Wände. Und erst dieses Gewand lässt den Raum als dieses Zimmer erscheinen.“ Die Oberfläche der Form weist sich zugleich als Oberfläche des Raums aus. Und in der Weise, in der die Form durch diese Oberfläche begrenzt wird, ihren Umriss erhält und recht eigentlich an dieser Grenze erst ihren Anfang nimmt, so nimmt auch der Raum an derselben Oberfläche als seine Begrenzung seinen Anfang: Die Grenze ist also für die Form wie für den Raum ein und dieselbe. Gleichermaßen also zeigt die Oberfläche der Form die äußere Grenze der Form wie die des Raums. Beiderseits dieser materialen „Außenfläche“ beginnen diesseits das Wesen des Raums und jenseits das der Form. Und noch bevor die Form als „begrenzendes Massiv“ sichtbar wird, entlehnt sich der Raum bereits der materialen Oberfläche der Form. Der Wahrnehmung nach verdankt der Raum seine Gestalt allein der begrenzenden Fläche und nicht dem „begrenzenden Massiv“. Einerseits legt eine Öffnung in der Oberfläche das Massiv der Form frei – beispielshalber als Dicke der Wand –, andererseits aber erscheinen Öffnungen mit ihren begrenzenden Oberflächen grundsätzlich selbst auch als eigenständige Räume. Das Erscheinen architektonischen Raums verdankt sich den äußeren Flächen der architektonischen Form und die wahrgenommenen „Nähen“ dieser Flächen zueinander bestimmen die inneren Ausdehnungen der Räume: „Architektur als Raumkunst der Grenze und des Übergangs.“ Zunächst aber zeigt sich die architektonische Form unmittelbar und wechselseitig mit Material und Konstruktion verbunden.

Mit Anschluss an die architektonische Überlieferung können Material und die Konstruktion entsprechenden Ausdruck finden und zu (archi-) tektonischem Erscheinen kommen. Dieses „Architektonische“ ist ein wesentliches Charakteristikum der Form und schon die kleinste Fehlstellung in diesen noch einfachen Relationen, führte unmittelbar zu Irritation und Missverständnis. Gleichwohl erweist sich auch die Form, in der Material und Konstruktion aufgehen, nicht von anderen inneren oder äußeren Bestimmungen als unabhängig: Form ist Form des Raums. Architektonische Räume zeigen sich als zeit-, ort- und zweckgebundene Innenräume. So ist beispielshalber die Zweckhaftigkeit in der Funktion des Gebäudes als Konzentration von Möglichkeiten des Gebrauchs hinterlegt. Das Wirken dieser Räume – ihr Erscheinen – setzt die Form als materiale, in der Konstruktion gebundene, bauliche Grenze voraus. Daher bestimmt das „Architektonische“ nicht nur den Charakter der Form, als vielmehr auch die Atmosphäre des Raums. Im Zusammenhang der Konstruktion hatten wir insofern von einer „Architektonik des Raums“ gesprochen. Als bauliche Grenzen bestimmen charakteristische Formen die Atmosphären der Räume, nach innen der Zimmer und der Höfe, nach außen der Straßen und der Plätze.  Beim Entwerfen und Gestalten nehmen wir die Form in der Architektur dennoch als unfrei an, da sie einerseits als Darstellung von Material und Konstruktion und über das „Architektonische“ auch immerzu als Analogie zu Anderem vorkommt, beispielshalber zu Natur, zu Konstruktion oder zu Raum. Andererseits und in erweitertem Sinn kommen auch äußere Einflüsse und Bestimmungen in architektonischen Formen zum Tragen, beispielshalber mit dem „Ort“ oder mit der „Zeit“, vor allem aber mit dem „Zweck“ – kulturell und gesellschaftlich – welcher allein sich im Stande zeigte, die Architektur zu höherer Idee und Sinnstiftung zu führen: Verschiedene Konnotationen werden vorstellbar, etwa die, der erhabenen Landschaft; des endlosen Raums; der Unergründlichkeit der Zeit – Vergänglichkeit und Zeitlosigkeit – der Erinnerung und des kulturellen Gedächtnisses; der menschlichen und gesellschaftlichen Verfasstheit, der natürlichen Harmonie; der Einfachheit eines guten und richtigen Lebens; der Wahl des Materials und der handwerklichen Fügung; oder auch die, der Stadt als der monumentalen Bühne der Wohnenden.“

Aber zurück zur Form, die, obgleich der offensichtlichen Verbindlichkeiten als die entscheidende und letzte Instanz des architektonischen Gestaltens gelten darf, ohne dabei die Architektonik von Material und Konstruktion zu negieren, ohne ihre unmittelbare Raumbindung zu leugnen und vor allem aber auch ohne die äußeren Einflüsse von Ort, Zeit und Zweck zu übergehen. Schon in der planenden Definition von Form und Formen kommt die gestalterische Bedeutung zum Tragen, Räume inmitten der Formen errichten wir schließlich nur mittelbar. Mit technischen Planzeichnungen, die zur Ausführung dienen, werden mitnichten allein die „inneren“ Grundlagen festgelegt, die infolge als Eigenschaftlichkeiten des Gebäudes auftreten, sondern in gleicher Weise auch die „äußeren“ Grundlagen eingeschrieben, die das Gebäude vor Ort und in der Zeit verankern und für seinen Zweck offenhalten. Architektur ist mitnichten Form allein, aber was Architektur wesenhaft ausmacht, findet sich in ihren Formen nachweisbar angelegt, ein Verständnis für Material, die Logik der Konstruktion, das Wirken der Räume, viele Möglichkeiten des Gebrauchs, eine Verbundenheit mit dem Ort, die Konzentration auf die Gegenwart und eine Kultur des Wohnens und der Wohnenden. Und also, aber wir ahnten es schon, die Frage nach der Form bleibt offen, keine Formel, oder, vielleicht als Vorstellung eine „offene“ Form, eine Offenheit, die im Entwurf einer architektonischen Entscheidung bedarf.

So widmet sich die 6. Aachener Tagung der Form. Unter den aufgerufenen Begriffen der Tagungsreihe kommen dabei fünf vor, die als „innere“ Grundlagen (Material, Funktion, Konstruktion, Raum und Form) zu den wesentlichen Eigenschaften eines Gebäudes gehören. Drei weitere Begriffe zählen als „äußere“ Grundlagen (Ort, Zeit und Zweck) zwar nicht zu den Eigenschaften eines Gebäudes, aber sie benennen wesentliche Einflüsse, unter denen Architektur (ent-)steht. In den fünf vorangegangenen Tagungen sind wir den Bedeutungen von „Ort“, von „Material“, von „Funktion“, von „Konstruktion“ und von „Raum“ nachgegangen, die diesjährige Tagung vervollständigt mit dem Begriff „Form“ die fünf „inneren“ Grundlagen der Architektur. Von den drei „äußeren“ sind „Zeit“ und „Zweck“ noch offengeblieben.

Begrifflich beschreibt „Form“ den stofflichen Teil des architektonischen Körpers. Formen lassen Räume erscheinen, aber bringen sie nicht zuerst die Materialien, oder vielleicht wesentlicher noch, ihre Konstruktionen zum Ausdruck? Offensichtlich erscheinen architektonische Formen auch als Formen von Anderem und Anderen, konkret, repräsentativ und symbolisch, oder sind sie schlussendlich doch nur als ein autonomer Ausdruck ihrer selbst anzusehen? Diesen Fragen will die 6. Aachener Tagung in gewohnter Weise in Thesendiskussionen anhand realisierter Projekte nachgehen.

Form und Architektur (Statement)
Welche Bedeutung hat die Form für die architektonische Gestalt des Baus? Welchen Stellenwert nimmt die Form beim Zustandekommen der Architektur ein? Inwieweit gehören Theorie und Praxis der Form zu den Grundlagen der Architektur?

Form und Entwurf
Ist eine bestimmte und bestimmende Vorstellung von Form immer schon beim Entwerfen präsent und daher auch ein wesentlicher Bestandteil eines jeden Entwurfs? Bestimmt die Form Raum, Konstruktion und Material des Baus, oder passt sich die Form in einer Wechselwirkung an diese an?

Form und Bau
In welcher Weise werden die an die Form gebundenen entwurflichen Vorstellungen baulich umgesetzt? Welche Rolle spielt Form für die architektonische innere und äußere Erscheinung des Gebäudes und wie und wann werden diese Überlegungen auf verschiedenen Ebenen des Entwurfs- und Planungsprozesses untersucht und präzisiert?